von Kathrin Raminger
In Erinnerung an die am 26. Oktober 1955 proklamierte Neutralitätserklärung Österreichs wurde auf Anregung des damaligen Unterrichtsministers Heinrich Drimmel (ÖVP) an diesem Datum bereits ab 1956 der „Tag der österreichischen Fahne“ begangen. Durch das Hissen der Rot-Weiß-Roten Fahne an Österreichs Schulen sollte innerhalb der Schuljugend das Bekenntnis zur österreichischen Identität gestärkt und die Bedeutung des Wiedererstehens Österreichs als selbstständigen, neutralen Staat ins Bewusstsein gerufen werden.[i] Erst 1965 wurde der 26. Oktober jedoch zum Österreichischen Nationalfeiertag erklärt und weitere zwei Jahre später, im Juni 1967, per Gesetz schließlich auch arbeitsfrei.[ii]
Angesichts des rund zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmenden Prozesses bis zum nunmehr uneingeschränkten und selbstbewussten demokratiepolitischen Bekenntnis zur Zweiten Republik und zur österreichischen Nation verwundert es nicht, dass die Begehung des österreichischen Nationalfeiertages auch 1968 noch mit großem Enthusiasmus vonstattenging. Während Jugendliche anderorts im Zuge der weltweit stattfindenden Studentenproteste gegen die herrschenden politischen Eliten und die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse protestierten, wurde im ÖVP-regierten Österreich ein überparteiliches Komitee bestehend aus Vertretern der jungen ÖVP und der sozialistischen Jugend geformt – darunter die sozialistische Jugendführerin Hilde Hawlicek, Informations-Staatssekretär im Bundeskanzleramt Karl Pisa sowie die Brüder Ernst und Peter Marboe –, welches mit dem Wunsch, am 26. Oktober 1968 eine Feier für die Jugend Österreichs in der Wiener Stadthalle zu organisieren, an Bundeskanzler Josef Klaus herantrat: „Nach einigen Besprechungen stimmte ich zu und ließ den Veranstaltern völlig freie Hand. An diesem Abend in der Stadthalle saß ich hinter Bundespräsident Jonas und bangte nicht wenig um einen ungestörten Verlauf. Wenn man aber von den provokanten Texten und der Lautstärke absah, verlief alles überraschend gut.“[iii] Für Klaus war die Feier der Jugend zum Nationalfeiertag 1968 jedenfalls denkwürdig: „Denkwürdig nicht nur deshalb, weil in diesem Jahr in Paris und Berlin politische Auseinandersetzungen auf der Straße stattfanden, während es in Wien ruhig war, sondern auch, weil hier […] eine Massenveranstaltung mit einem breiten politischen und kulturellen Themenspektrum [stattfand].“[iv]
Ganz so angepasst, wie es den Erinnerungen des Altkanzlers zufolge den Anschein hat, verlief die Feier in der Stadthalle, die in Ausschnitten auch im ORF übertragen wurde und von Alfred Treiber als „Monster-Spektakel“ und „Event und Gegenevent in einem“ bezeichnet wird, jedoch nicht.[v] Augustin Kubizek, seines Zeichens damaliger künstlerischer Leiter der Wiener Schütz-Kantorei[vi], zeigte sich in einem in der Österreichischen Musikzeitschrift publizierten Kommentar ob der musikalischen Darbietungen, die von der Bundesregierung zudem mit 1,7 Millionen Schilling gefördert worden waren, empört: „Die Veranstalter hatten in der Stadthalle eine ungemeine Vielfalt von geistigen Konsumgütern massiert, wobei wieder einmal – wie könnte es in Österreich anders sein – die seriöse Musik zu kurz kam.“[vii] „Natürlich“ an erster Stelle stand die Beatmusik, unter anderem vertreten durch die Worried Men Skiffle Group, wie Kubizek ebenfalls kritisch anmerkte.[viii] Ein besonderer Dorn im Auge war ihm aber das Fehlen österreichischer Musik, während zugleich das gemeinsame Singen des „rührenden Gemeinschaftsliedes“ We Shall Overcome[ix] zu einem der Höhepunkte des Abendprogramms zählte: „Wir haben also nach Meinung der Veranstalter kein österreichisches Gemeinschaftslied und müssen daher zum ausländischen, primitiven Song greifen, um den Gemeinschaftsgedanken anläßlich des österreichischen Nationalfeiertages „gebührend“ zum Ausdruck bringen zu können.“[x] Die Feststellung, das Publikum sei der Aufforderung zum Mitsingen kaum nachgekommen, kommentiert Kubizek hämisch: „Die Melodie erinnert lebhaft an das Kinderlied „Ist die schwarze Köchin da?“; in dieser Form dürfte das Lied in Österreich bekannter sein, nur ist es wohl zur Feier des Nationalfeiertages kaum passender.“[xi]
Der eigentliche Anlass für Kubizeks öffentliche Empörung war jedoch mitnichten die Tatsache, dass bei der Feier der Jugend Österreichs ausgerechnet am Nationalfeiertag als „einzige österreichische Musik“ die Bundeshymne erklungen war[xii], sondern sie war einer zutiefst persönlichen Kränkung geschuldet, sollte doch die von Kubizek geleitete Schütz-Kantorei ebenfalls bei der Feier auftreten und Robert Schollums Psalm 8 zum Besten geben.[xiii] Aus Zeitmangel wurde der Auftritt der Schütz-Kantorei in einer blamablen Art und Weise jedoch kurzfristig abgesagt, und der Chor, der sich bereits auf der Bühne eingefunden hatte, musste diese ohne zu singen wieder verlassen – „Beat, Jazz, Unterhaltungs-, Tanzmusik und fragwürdiges Experiment hatten eben schon zu viel Zeit in Anspruch genommen“, so Kubizek.[xiv]
Und so steht das – bei aller Innovation und Modernität keineswegs revolutionäre – Musikprogramm bei der Feier der Jugend aus Anlass des österreichischen Nationalfeiertages 1968 symptomatisch für die im internationalen Vergleich äußerst zahme Rebellion der österreichischen Jugend.[xv] Nichtsdestotrotz manifestiert sich anhand der Reaktion Augustin Kubizeks, dass auch für Österreich gilt, was sich angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge der 68er-Bewegung am passendsten in den Worten Bob Dylans ausdrücken lässt: „The Times They Are a-Changin‘“.
[i] Vgl. Diem, Peter, Der österreichische Nationalfeiertag, in: https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Symbole/Nationalfeiertag (24.10.2018). Sh. zur Bedeutung der Neutralität für die kollektive österreichische Identität nach 1945 u. a. Liebhart, Karin / Pribersky, Andreas, Die Mythisierung des Neubeginns: Staatsvertrag und Neutralität, in: Brix, Emil / Bruckmüller, Erich / Stekl, Hannes (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten, Wien 2004, 392–417.
[ii] Sh. zur wechselvollen Geschichte des österreichischen Nationalfeiertages in der Ersten und Zweiten Republik auch Spann, Gustav, Der österreichische Nationalfeiertag, in: Brix, Emil / Stekl, Hannes (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien 1997, 145–69. Ebenso: Spann, Gustav, Zur Geschichte des österreichischen Nationalfeiertages, in: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport. Abteilung Politische Bildung (Hg.), 26. Oktober. Zur Geschichte des österreichischen Nationalfeiertages, Wien o. J., 27–34. Online verfügbar unter: http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/spann_nationalfeiertag.pdf (24.10.2018).
[iii] Josef Klaus: „Ich ging den anderen Weg“, in: Wohnout, Helmut (Hg.), Demokratie und Geschichte, Wien/Köln/Weimar 1999, 54.
[iv] Dr. Josef Klaus, in: Kriechbaumer, Robert (Hg.), Die Ära Josef Klaus. Österreich in den „kurzen“ sechziger Jahren, Band 2, Wien/Köln/Weimar 1999, 266.
[v] Treiber, Alfred, Ö1 gehört gehört, Wien/Köln/Weimar 2007, 50.
[vi] Diese war erst wenige Jahre zuvor, 1965, gegründet worden und sah sich als Bewahrerin der musikalischen Tradition geistlicher Chormusik. Vgl. 10 Jahre Wiener Schütz Kantorei, Wien o. J. [1976], 21 und 26.
[vii] Kubizek, Augustin, Österreichische Musik zum Nationalfeiertag, in: ÖMZ, Vol. 26, Heft 10, 1968, 636.
[viii] Vgl. ebd. bzw. Treiber, Ö1 gehört gehört, a. a. O.
[ix] Der Folk-Song We Shall Overcome wurde im Zuge des friedlichen Protests gegen die rassistische Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung zur Hymne der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung erhoben. Besondere Bekanntheit erlangte er durch den Auftritt von Joan Baez im Rahmen des March on Washington am 28. August 1963, bei dem Martin Luther King, Jr. auch seine ikonische Rede I Have a Dream hielt. Obwohl eng assoziiert mit den Protestsängern Joan Baez und Pete Seeger, entstand We Shall Overcome vermutlich bereits im frühen 20. Jahrhundert im Süden der USA und wurde 1945 von streikenden Tabakarbeitern in Charleston, South Carolina gesungen. Als Hymne der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung steht We Shall Overcome für Solidarität über alle Grenzen und Gegensätze hinweg. Vgl. Biederstädt, Wolfgang, „We Shall Overcome. Die Lieder der Bürgerrechtsbewegung von Joan Baez und Bob Dylan“, in: Paul, Gerhard / Schock, Ralph (Hg.), Sound des Jahrhunderts, Bonn 2017, 450–3.
[x] Kubizek, Österreichische Musik zum Nationalfeiertag, a. a. O.
[xi] Ebd. Bei dem Kinderlied Ist die schwarze Köchin da? handelt es sich um ein seit den späten 1880er Jahren in Deutschland dokumentiertes Singspiel, bei dem die Strophen die Funktion eines Auszählreimes ausüben, sodass am Ende nur ein Kind übrig bleibt. Dieses wird dadurch als „schwarze Köchin“ identifiziert und als solche verhöhnt und stigmatisiert. Sh. https://www.volksliederarchiv.de/alte-kinderreime/ist-die-schwarze-koechin-da/ (24.10.2018). Der fragwürdige pädagogische Wert des Spieles, das der schwarzen Pädagogik zugeordnet wird, wurde bereits seit den 1930er Jahren erkannt und diskutiert. Vgl. Fenichel, Otto, „Die schwarze Köchin“, in: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 10, 2, 1936, 103–5. Ebenso: Schmaus, Grete, „Das alte volkstümliche Kinderlied und Kinderspiel“, in: Schweizerische Lehrerinnen-Zeitung, 24, Band 55, 1951, 355–63. Aus postkolonialer Perspektive erscheint zudem die rassistische Komponente des Liedes höchst problematisch. Umso zynischer mutet Kubizeks Anspielung auf das Kinderlied Ist die schwarze Köchin da? im direkten Zusammenhang mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und einem ihrer wichtigsten Musikstücke an, deren Anliegen und Zielsetzungen durch Kubizeks Bemerkung bewusst konterkariert werden.
[xii] Vgl. Kubizek, Österreichische Musik zum Nationalfeiertag, a. a. O.
[xiii] Das 1966 entstandene Werk war bereits am 1. Juli 1968 beim 16. Deutschen Bundessängerfest vorgetragen worden, zu dem die Schütz-Kantorei als Vertretung Österreichs delegiert worden war. Vgl. ebd.
[xiv] Ebd.
[xv] Sh. dazu u. a. Keller, Fritz, Wien, Mai 68. Eine heiße Viertelstunde, s. l. 2008. Ebenso: Pelinka, Anton, Die Studentenbewegung der Sechziger Jahre in Österreich, in: Forum Politische Bildung (Hg.), Wendepunkte und Kontinuitäten, Wien/Innsbruck 1998, 148–57. Online verfügbar unter: http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/studentenbewegung.pdf (24.10.208).